Fehlleistung der Gefühlskontrolle führt zu Konzentrationsschwäche, innerer Unruhe und Reizbarkeit

Schlechter Schlaf schwächt emotionale Intelligenz

von Holger Westermann

Schlafstörungen oder Schlafmangel provozieren am Folgetag Konzentrationsschwäche, innerer Unruhe und Reizbarkeit. Ursache ist nicht die anhaltende Müdigkeit selbst, sondern die dabei auftretende Wahrnehmungsstörung. Das Gefühlszentrum im Gehirn kann nicht mehr zwischen neutralen und emotionalen Reizen unterscheiden.

Forscher der Universität Tel Aviv (Israel) untersuchten an 18 gesunden Freiwilligen (Durchschnittsalter 27 Jahre, darunter 10 Frauen) die neuronalen Folgen einer durchwachten Nacht (die zwei Tage zuvor mussten sie bereits auf Kaffee und Alkohol verzichten). Für einen Konzentrationstest am nächsten Morgen wurden die Gehirnaktivität der Versuchsteilnehmer als Elektroenzephalogramm (EEG) und als funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) protokolliert. Die Aufgabe an sich war einfach: Die Bewegung von Lichtpunkte verfolgen und darauf gegebenenfalls mit einem Tastendruck reagieren oder einen korrekt angezeigen Zahlwert bestätigen. Unterlegt und eingerahmt wurden diese in rascher Folge wiederkehrenden kurzzeitigen Konzentrationsaufgaben mit Bildern (standardisiert aus dem International Affective Picture System, IAPS), die entweder negativ emotional erregten (empören, Mitleid wecken) oder emphatisch neutral waren (jeweils 72 Bilder).

Waren die Versuchsteilnehmer ausgeschlafen litt die Konzentration unter der gezielt provozierten emotionalen Erregung, während neutrale Bilder bessere Ergebnisse garantierten. Emotionen lenkten ab, das Gehirn ist anderweitig beschäftigt, die Aufmerksamkeit sinkt. Die Forscher konnten diesen Effekt am EEG nachvollziehen, das bei der experimentellen Präsentation neutraler Bilder ganz andere Muster zeigte als bei emotional anrührenden.

Unter Schlafentzug zeigten die Versuchsteilnehmer deutliche Konzentrationsschwäche, die Testergebnisse waren durchweg schlechter - und zwischen neutralen oder negativ stimulierenden Einrahmungen zeigte sich im EEG kein Unterschied. Die Forscher interpretieren das als Überforderung aufgrund des Schlafmangels: „Es zeigt sich, dass wir unsere Neutralität verlieren: Die Fähigkeit des Gehirns zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden wird gestört – plötzlich scheint alles wichtig."

Ein Vergleich der fMRT-Aufnahmen von ausgeschlafenen und übermüdeten Versuchsteilnehmern ergab einen eklatanten Unterschied in der Aktivität des Gefühls- und Angstzentrum im Gehirn (Mandelkern, Amygdala). Beim wachen Gehirn ist diese Region des limbischen Systems nur bei emotional relevanten Reizen aktiv, neutrale Information löst keine Reaktion aus. Unter Schlafmangel schwindet diese Differenzierung, nun wird jedes Bild als bedeutsam angesehen und erhält Aufmerksamkeit, die für andere Konzentrationsaufgaben nicht mehr zur Verfügung steht. „Das belegt, dass Schlafmangel nicht unser generelles Urteilsvermögen herabsetzt, sondern spezifisch die Reaktion auf normalerweise unwichtige, neutrale Reize verändert", erläutern die Forscher in ihrem Fazit. So lässt sich auch die soziale Unverträglichkeit übermüdeter Menschen erklären: „Alle auf uns einströmenden Eindrücke lösen nun eine emotionale Reaktion aus, selbst völlig neutrale.“ Nicht ein Mangel an Emotionen oder gar Gleichgültigkeit ist Ursache für eruptive Gereiztheit, sondern die Unfähigkeit ablenkende Informationen zu ignorieren. Durch die Reizüberflutung schwindet die Konzentrationsfähigkeit und die Bereitschaft zur sozialen Konfrontation steigt, die Aggressionskontrolle kollabiert. Die Forscher empfehlen in ihrem Fazit, dass Menschen, die schlecht oder nicht ausreichend geschlafen haben nicht nur emotional animierende, sondern alle ablenkenden Reize meiden sollten. Wer sich gemeinhin bei Musik gut auf den Lernstoff oder die Arbeit konzentrieren kann, wird unter Schlafmangel durch innere Unruhe und schlechte Laune ausgebremst. Kurzfristig hilft: Reize reduzieren, Stress vermeiden - oder ausschlafen.

Quellen:

Simon, E.B. et al. (2015): Losing Neutrality: The Neural Basis of Impaired Emotional Control without Sleep. The Journal of Neuroscience 35(38): 13194-13205. doi: 10.1523/JNEUROSCI.1314-15.2015

Erstellt am 3. August 2016
Zuletzt aktualisiert am 3. August 2016

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