Gruppensolidarität wirkt wie ein Analgetikum

Mitgefühl reduziert Schmerzen

von Holger Westermann

Wer von der schmerzlindernden Wirkung sozialer Nähe profitieren möchte, muss nicht miteinander leiden, aber tiefe Emotionen sollte man teilen. Das kann gemeinsames Amüsement sein, aber auch anderweitig Anrührendes, beispielsweise das gemeinsame Miterleben einer Liebes- oder Leidensgeschichte.

Ein Forscherteam um Prof. Dr. Robin Dunbar (Evolutionsbiologe, Soziobiologe und Memetiker) an der University of Oxford (Großbritannien) untersuchte bei 169 Erwachsenen (Alter von 18 bis 72; Durchschnittsalter 24,8 Jahre; 60% Frauen) die Wirkung von gemeinsamem erlebten Emotionen. Dazu bekamen sie in Gruppen von durchschnittlich 11 Personen (2 bis 49) eigens produzierte Filme zu sehen, die explizit ängstigen, rühren oder amüsieren. Die Gruppen wurden aus bekannten und unbekannten Mitgliedern zusammengestellt; 44% kannten niemanden und lediglich 8% mehr als zwei andere Gruppenmitglieder. Eine 68-köpfige Kontrollgruppe (Durchschnittsalter 29,7 Jahre, 61% Frauen) betrachtete dagegen in vergleichbaren Gruppen Dokumentarfilme.

Für die Datenerhebung gaben die Versuchsteilnehmer durch einem Fragebogen Auskunft über ihre emotionale Befindlichkeit (7-stufigen Lickertskala); zudem wurde die Veränderung der Endorphin-Konzentration gemessen. Diese körpereigenen Morphine wirken schmerzlindernd und schmerzunterdrückend (analgetisch). Sie werden im Gehirn ausgeschüttet und gelten daher auch als „Glückshormone“. Denn soziale Zuneigung und Erfolgserlebnisse bewirken eine euphorisierende Freisetzung. Da sie die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren, kann die Konzentration nicht durch einen (nachträglichen) Bluttest bestimmt werden. Die Forscher wählten daher den indirekten Ansatz über die Schmerzempfindlichkeit der Versuchsteilnehmer. Beim Wand-Sitz-Test wird gemessen, wie lange die Versuchsteilnehmer die zunächst unbequeme, dann anstrengende und letztendlich schmerzhafte Position aushalten (mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, während die Knie rechtwinklig gebeugt sind). Dieser Test kann ohne apparativen Aufwand von vielen Personen gleichzeitig durchgeführt werden und liefert eine valide Messung der Schmerzempfindlichkeit.

„Fiktion sowohl in Form des Geschichtenerzählens als auch im Drama, ist ein wichtiger Teil der menschlichen Gesellschaft", erklären die Forscher ihren experimentellen Ansatz. Die Geschichten vermitteln Normen und Werte, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken. Gemeinsam Lachen, festigt soziale Bindungen und provoziert Endorphin-Ausschüttung. Dieser Effekt ist seit Langem bekannt und wird in der Schmerztherapie genutzt. Neu ist jedoch die Erkenntnis, dass mit emotional anrührenden oder gar furchteinflößenden Erlebnissen vergleichbare Effekte erzielt werden - sofern die Erfahrungen in Gemeinschaft erlebt wurden.

So dämpfte das emotionale Mitleiden bei den Versuchsteilnehmern die Schmerzsensibilität durchschnittlich um 13%. Selbst die negative Gefühlsregung reduziert den Schmerz. Die Forscher vermuten als Ursache das im gemeinsamen Empfinden gefestigte Gruppengefühl. Die Mitglieder der Kontrollgruppe erlebten bei ihrem gemeinschaftlichen Filmansehen kein kollektives Mitgefühl und zeigten daher auch keine Veränderung der Schmerzempfindlichkeit.

In ihrem Fazit schlagen die Forscher den Bogen zur Funktion gemeinsamer Geschichten (Soziologen sprechen von „Narrativen“) für menschliche Gemeinschaften und Kultur: Die Tatsache, dass das Anschauen eines emotional berührenden Dramas den Sinn für Zusammengehörigkeit einer Gruppe stärkt, könnte darauf hindeuten, dass unser Enthusiasmus für diese Form der Geschichten sich wegen dieses sozialen Zwecks entwickelt hat. So ist es die Eingebundenheit und Geborgenheit in eine von gemeinsamen Werten (und dadurch begründeten Vertrauen im Sinne einer wechselseitigen Berechenbarkeit der Sozialpartner) geformten Gemeinschaft, die sogar so etwas Individuelles wie Schmerzen lindern kann.

Quellen:

Dunbar, R.I.M. et al (2016): Emotional arousal when watching drama increases pain threshold and social bonding. The Royal Society Publishing, online veröffentlicht am 21. 09. 2016. DOI: 10.1098/rsos.160288

Erstellt am 18. März 2017
Zuletzt aktualisiert am 18. März 2017

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