Gehirnareale für Sozialkompetenz und höhere Denkfunktionen sind besonders betroffen

Pubertät ist keine Hormonstörung sondern Hirn-Umbau

von Holger Westermann

Teenager und ihr soziales Umfeld erleben die Phase zwischen Kindheit und dem 20. Geburtstag als konfliktreiche Zeit. Aufgrund der offensichtlichen Veränderungen am Körper werden dafür gern „Hormone“ verantwortlich gemacht. Doch die markante Veränderung des Charakters, vielfach Grund für mentale und soziale Gereiztheit, offenbart vielmehr einen massiven organischen Umbau im Gehirn.

Pubertät ist eine für alle unmittelbar oder mittelbar Beteiligten schwierige Zeit. Einerseits verändert sich der Körper von der kindlichen zur erwachsenen Gestalt, die Stimme wird tiefer und der Schlafrhythmus verschiebt sich. Jugendliche bleiben abends länger wach als Kinder und stehen frühmorgens nur widerwillig auf. So offensichtlich die äußeren Veränderungen sind, die psychische Komponente des Erwachsenwerdens ist weitaus wirkmächtiger: Das Lernverhalten ändert sich, Motivationsfähigkeit und Kreativität unterliegen starken Schwankungen oder weitgehender Schwäche, selbst die Intelligenz zeigt bei standardisierten Messungen deutliche Veränderung. So zeigen Jugendliche eine höhere Belohnungsappetenz als Erwachsene oder Kinder, während sie selbst nur wenig soziale Empathie investieren.

Forscher der University of Pennsylvania (Philadelphia, Pennsylvania, USA) untersuchten in einer Längsschnittstudie MRT-Hirnscans (Magnetresonanz-Tomographie) von 934 Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 22 Jahren und errechneten auf Grundlage dieser Daten die funktionellen und anatomischen Veränderungen während der Pubertät. Dabei zeigten sich deutliche Veränderungen; einige Hirnareale wurden dicker, andere schrumpften. Besonders betroffen waren Regionen, die menschentypische Eigenschaften steuern:

  • Steuerung der Aufmerksamkeit
  • Entscheidungsfindung
  • Übergeordnete Denkprozesse und Assoziationen
  • Verarbeitung von Gefühlen
  • Sprachzentrum
  • Körperwahrnehmung
  • Sehsystem

Dabei war die Umbauintensität nicht gleichmäßig. Offenbar waren evolutionär junge Hirnareale besonders stark betroffen. Bei der Neugestaltung des Sehystems blieben Regionen für Bewegungen und Wahrnehmung von Reizen weitgehend unberührt, während die Interpretation des Gesehenen neu strukturiert wurde. Besonders intensiv war die Reorganisation des präfrontalen Cortex (Emotionen und soziale Empathie) sowie des Sprachzentrums.

Die Forscher interpretieren ihre Befunde in Analogie zum Biogenetisches Grundgesetz von Ernst Heckel (1834 - 1919): "Das spricht dafür, dass diese entwicklungsbedingte Umstrukturierung in Teilen mit der evolutionären Neuheit dieser Strukturen verknüpft ist“. Heckel hatte formuliert, dass die Embryonalentwicklung (Ontogenese) die Stammesgeschichte (Phylogenese) nachvollziehe. Zu dieser These kam der deutsche Propagandist von Charles Darwin beim systematischen Vergleich von Wirbeltierembryonen in unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Die Anlage von Kiemenbögen bei Säugetieren, die sich stammesgeschichtlich aus Fischen entwickelt hatten, deutete er ebenso als Beleg für seine These wie die Anlage von Hinterbeinen bei Walen. Die nun festgestellte „verzögerte Hirnentwicklung“ während der Pubertät fügt sich locker in diese Argumentation, die in strikter Form schon länger als widerlegt gilt, als orientierende Idee aber weiterhin nützlich ist. Die individuelle Entwicklung ist mit der Geburt noch nicht abgeschlossen. Gerade die Eigenschaften, die als spezifisch menschlich diskutiert werden, erfahren offensichtlich noch einen zweiten Entwicklungsschritt.

Quellen:

Sotiras, A. et al. (2017): Patterns of coordinated cortical remodeling during adolescence and their associations with functional specialization and evolutionary expansion. Proceedings of the National Academy of Sciences 114 (13): 3527 – 3532. doi: 10.1073/pnas.1620928114

Erstellt am 4. April 2017
Zuletzt aktualisiert am 4. April 2017

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