Forscher fokussierten bislang auf männliche Form der Schmerzverarbeitung
Migräne als Frauenkrankheit
Eine Studie zur Verarbeitung von Schmerzen aufgrund von Verletzungen und Entzündungen offenbart erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Das könnte auch Migränepatienten betreffen (ebenso wie Menschen mit Rheuma, Arthroseschmerzen und möglicherweise auch Fibromyalgie). Denn nach der neurovaskulären Therorie beruhen die Schmerzattacken der Migräne auf einer Entzündung des Trigeminusnervs sowie der Hirngewebes und der Hirnhäute.
In Herrenwitzen lebt das Klischee, dass die Ehefrau ihre Migräne „nimmt“ um sich dem drängenden Gatte zu entziehen. Wahrscheinlich zu recht, wenn er denn diesen Humor pflegt. Denn eine quälende Migräneattacke ist keine kleine Unpässlichkeit, sie dauert Stunden oder sogar Tage und ist nur mit starken Schmerzmitteln im abgedunkelten geräuscharmen Raum zu ertragen. Für Betroffene ist der Leidensdruck enorm, die Schmerzepisoden kündigen sich zumeist rund eine Stunde zuvor mit typischen Beschwerden, beispielsweise Heißhunger auf energiereiche Kost oder Sprachstörungen) an. Allein in Deutschland sind rund 18 Millionen Menschen betroffen - mehrmals pro Woche, pro Monat oder nur sporadisch.
Nach der vaskulären Theorie provoziert die abrupte Weitstellung der Blutgefäße im Gehirn einen Dehnungsschmerz (beispielsweise als Reflex auf eine vorangegangene Kontraktion = Verengung als Reaktion auf Kältereize, die einen Sauerstoffmangel bewirkte). Die neurovaskuläre Theorie geht dagegen davon aus, dass Migräneattacken Folge einer Entzündungsreaktion sind. Erst dadurch weiten sich die Blutgefäße und es entsteht ein pulsierender Dehnungsschmerz.
Bei der Schmerzentstehung durch Entzündungen vermitteln spezielle Immunzellen, die Mikroglia, dem Nervensystem die Schmerzinformation. Wissenschaftler der McGill Universität in Montreal (Kanada) untersuchten an Mäusen, in wiefern sich die Toleranz gegenüber solchen Schmerzen verändert, wenn man die Funktion der Mikroglia hemmt. Sie konnten den erwarteten schmerzlindernden Effekt jedoch nun bei männlichen Mäusen nachweisen, bei weiblichen Mäusen sank das Schmerzempfinden nicht.
Bei weiblichen Tieren übernehmen offensichtlich andere Immunzellen, die B-und T-Zellen, die Funktion der Mikroglia. Es gibt demnach bei männlichen und weiblichen Mäuse unterschiedliche Schlüsselmoleküle des Immunsystems, die Schmerzentstehung und -verarbeitung steuern. Die Forscher gehen davon aus, dass dieser geschlechtsspezifische Unterschied auf die Wirkung des männlichen Geschlechtshormons Testosteron zurückzuführen sei. Die beobachteten Effekte sind nach Einschätzung der Forscher grundlegende Mechanismen der Säugetierphysiologie und in sofern sind die Ergebnisse auch für Menschen relevant.
„Die Möglichkeit, dass die biologische Grundlage für Schmerz bei Männern und Frauen so anders sein könnte, wirft nun wichtige wissenschaftliche und ethische Fragen auf", erläutert der Studienleiter Prof. Dr. Jeffrey S. Mogil. Denn „in den vergangenen 15 Jahren haben Wissenschaftler vermutet, dass Mikroglia am Regelknopf von Schmerzen sitzen, doch diese Schlussfolgerung basierte fast ausschließlich auf Forschung mit männlichen Mäusen“. So war dieser spezielle Zweig der Schmerzforschung bislang schlicht fehlerhaft, da die weibliche Form der Schmerzverarbeitung unbeachtet blieb.
Entzündungsschmerz entsteht demnach bei beiden Geschlechtern unterschiedlich. Gerade bei diesen Krankheitsbildern sind Frauen weit häufiger betroffen als Männer. So liegt das Geschlechterverhältnis bei Migräne bei 2:1, bei rheumatoider Arthritis 3:1, bei Fibromyalgie (nicht entzündlich aber eventuelle vergleichbare Schmerzgenese) 9:1. Dieses Ergebnis könnte die Schmerzforschung und Medikamentenentwicklung nachhaltig beeinflussen. "Das Verständnis der Geschlechtsunterschiede bei den Signalwegen von Schmerzen ist absolut notwendig für die Entwicklung gezielt wirkender Schmerzmittel.“, so die Forscher in ihrem Fazit. Gerade für Medikamente, die gegen entzündungsbedingten Schmerz wirken sollen, ist diese Erkenntnis besonders wichtig. Denn nach den Erkenntnissen dieser Studie kann die testosteron-getriggerte Schmerzverarbeitung kein Maßstab für weibliche Schmerzsensibilität sein.
Quellen: Sorge, R.E. et al. (2015): Different immune cells mediate mechanical pain hypersensitivity in male and female mice. Nature Neuroscience 18: 1081–1083. doi:10.1038/nn.4053.
Erstellt am 11. September 2015
Zuletzt aktualisiert am 11. September 2015

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